Ende 2022 veröffentlichte das Bundesamt für Statistik alarmierende Zahlen: Zum ersten Mal waren psychische Störungen die häufigste Ursache für eine Hospitalisierung bei den 10- bis 24-Jährigen – noch vor körperlichen Verletzungen. Auch die Spitaleinweisungen aufgrund von Suizidversuchen in dieser Altersgruppe hatten innert eines Jahres um 26 Prozent zugenommen. Kein Zweifel: Ängste und Unsicherheiten sind bei Erwachsenen wie auch Heranwachsenden verbreitet. Waren früher Gehorsam, Disziplin und Fleiss besonders gern gesehen, ist heute anderes wichtiger geworden. «Unsere Welt braucht eigenständige, resiliente und soziale junge Menschen – und die brauchen starke Wurzeln», sagt Simona Zäh. Die Lehrerin, Referentin und systemische Familienberaterin setzt sich seit Jahren mit Kindern und Jugendlichen auseinander.
Alarmiert oder sicher gebunden
Ängste hätten viel mit den gesellschaftlichen Umständen zu tun. Unsicherheiten wie eine Pandemie, ein naher Krieg, der Klimanotstand oder Bankenkrisen können in jedem Menschen, ob gross oder klein, eine Art «Alarm» auslösen. «Unser System sagt, Vorsicht, da ist etwas», beschreibt es Zäh. Insbesondere für Jugendliche sei diese Herausforderung riesig – aus zwei Hauptgründen. Erstens erleben sie in der Adoleszenz eine «Bewusstseinsexplosion». Plötzlich öffnet sich ihre Perspektive auf die Welt und auf sich selbst. Im Gegensatz zu Kindern können sie nun spekulativ denken: «Wie könnte die Welt auch noch sein?» Zweitens haben sie mehr Abstand zu den Eltern. Schon rein körperlich – sie sind grösser, passen nicht mehr auf den Schoss von Mama und Papa. Sie verbringen die Tage häufig auswärts, was ein Gefühl von Getrenntheit mit sich bringen kann. «Wir Erwachsene haben gelernt, dass es zum Leben dazugehört, dass wir von niemandem restlos verstanden werden. Aber für Teenager ist das neu – das ist verwirrend und bringt Einsamkeit und manchmal auch Verzweiflung mit sich», erläutert sie. Um diese Herausforderungen zu meistern, bräuchten sie ein weiches Herz, so die Expertin. Das bedeutet, sie müssen in Kontakt mit ihren Emotionen sein, sie fühlen können. «Häufig leben wir ihnen das nicht wirklich vor.» Damit meint sie, dass wir uns zu wenig Zeit nehmen, um Gefühle zuzulassen. Um etwa nach einem schwierigen Tag im Büro im sicheren Daheim zu weinen oder in der Natur zu schreien, Steine zu werfen. Zäh erklärt: «Wenn wir etwas Schwieriges emotional nicht annehmen können, dann sperren wir es weg oder bekämpfen es. Der Alarmzustand bleibt dann aktiviert. Lassen wir aber Gefühle zu, etwa durch Tränen, kann unser Hirn in den parasympathischen Modus umstellen. Es weiss dann: ‹Ich habe es überlebt› und unser System kann zur Ruhe kommen.»
Urmenschlicher Trieb: Bindung
Was Erwachsene längst kennen oder in der Therapie lernen, ist bei Heranwachsenden noch nicht selbstverständlich. «Sie brauchen fürsorgliche erwachsene Bezugspersonen», so die Toffenerin. Bindung sei die Basis der menschlichen Entwicklung, quasi ihr Wurzelwerk, das Halt gibt und sie mit Nährstoffen versorgt. Um das menschliche Potenzial zu entfalten, sei eine tiefe Bindung zu mindestens einer erwachsenen Person unabdingbar. «Dies ist kein simples Bedürfnis, sondern ein urmenschlicher Trieb», betont sie. Man sehe dies immer wieder, etwa nach einer Katastrophe. Da suchen die Betroffenen nicht zuerst nach Nahrung, sondern nach ihren Liebsten. «Gebunden sein bedeutet, dass es einen Ort gibt, an dem ich gesehen, geliebt und geschätzt werde, und wo ich dazugehöre und Loyalität erfahre», erläutert Zäh.
Problem der Gleichaltrigenorientierung
Diese Bindung zu pflegen, erfordert im oft durchgetakteten Alltag einen Zusatzaufwand. Im besten Fall sind es die Eltern, es können aber auch andere Bezugspersonen wie Grosseltern oder Lehrpersonen sein. Ungünstig sei es aber, so Simona Zäh, wenn sich Kinder und Teenager nur noch an ihren «Gspänli» oder etwa an Gleichaltrigen auf Social Media orientieren. Gleichaltrigenorientierung könne die Bindung zu den Eltern oder anderen erwachsenen Bezugspersonen beeinträchtigen. Dann leide der Zugang zu den Kindern und sie vertrauten sich den Eltern nicht mehr an, wenn sie etwas belastet. Die Problematik zeige sich gut in der Populärkultur, so die Bindungsfachfrau. «Modetrends oder was gerade ‹in› ist, ändert sich immer wieder. Die Teenager müssen sich ständig anpassen, um noch dazuzugehören.» Anders ist es, wenn die wichtigsten Werte von fürsorglichen erwachsenen Bezugspersonen an die Jungen weitergegeben werden. Dort seien, im Gegensatz zur «Influencer-Kultur», Zugehörigkeit und Annahme bedingungslos. Nur ohne den Druck, zu einer «Peer group» passen zu müssen, können Kinder und Teenager ihre eigenständige Persönlichkeit entfalten.
Räume schaffen, in denen es fliesst
Sicheres Gebundensein kann also Ängsten entgegenwirken. Was bedeutet das nun für die Eltern oder andere Bezugspersonen, die dies mit den ihnen Anvertrauten bewusster umsetzen möchten? «Möglichst viel zusammen machen, das Spass macht und verbindet. Kurz: wo ‹es fliesst›», fasst es Zäh zusammen. Sie nennt es auch Spiel, fasst diesen Begriff aber weit: «Nichts, bei dem es um das Produkt geht – das wäre Arbeit.» Zusammen kochen, herumalbern, Pingpong spielen, spazieren gehen. Bei kleinen Kindern sind auch Rollenspiele hilfreich für die Psychohygiene und Verbundenheit, etwa mit Plüschtieren oder Playmobil. «Von dem mehr machen, was den Kindern Spass macht und ihnen guttut», sagt sie. Bei den Teenagern bedeutet Spiel auch: Tagebuch schreiben, Theater spielen, laut Musik hören oder machen, zeichnen. «Räume bieten und vor allem freihalten, in denen man etwas von sich ausdrücken kann.»
Simona Zäh betont, dass es kein dogmatisches «Richtig» oder «Falsch» gibt. Die Eltern-Kind-Beziehung sei wie ein Tanz. Man gehe individuell aufeinander ein, und je mehr Verbundenheit man in diesem Tanz erlebe, desto tiefer werde die Bindung.
Bindungsbasiert
Simona Zäh ist Initiantin des Kompetenzzentrums bindungsbasiert.ch. Mit Kursen, Blogbeiträgen und einem Podcast hilft sie Eltern und anderen Bezugspersonen, Kinder und Jugendliche besser zu verstehen und die Bindung zu ihnen zu stärken. Ihre Arbeit beruht zu einem grossen Teil auf dem bindungsbasierten Entwicklungsansatz von Dr. Gordon Neufeld (Kanada), kombiniert mit dem systemischen und traumapädagogischen Ansatz.
Für die Leserinnen und Leser der Gantrisch Zeitung hat Simona Zäh weiterführende Infos zu den angesprochenen Themen zusammengestellt: