Süsser Schlaf – oder stressende Störung?

Süsser Schlaf – oder stressende Störung?

Friedlich schlummern kann nicht jeder. «Heute kennt man um die 80 verschiedene Schlaf-Wach-Störungen.» Prof. Dr. med. Johannes Mathis weiss wie kaum ein anderer, dass die Nachtruhe längst nicht allen vergönnt ist. Der Belper Neurologe führt am Neurozentrum Bern die erste Praxis für Schlafmedizin der Schweiz. Seit rund 40 Jahren beschäftigt er sich mit dem Thema.

Rund ein Drittel unseres Lebens «verschlafen» wir. Wozu brauchen wir diese Stunden, in denen wir nicht nur ruhen, sondern ganz «abschalten»? Die kurze Antwort lautet: «Man weiss es noch nicht genau.» Wobei das natürlich eine bescheidene Untertreibung ist – Dr. Johannes Mathis und seine Kolleginnen und Kollegen aus der Neurologie und Schlafforschung haben doch schon das eine oder andere herausgefunden. So ist zum Beispiel erwiesen, dass Kinder, die gerade grosse motorische Fortschritte machen – etwa laufen lernen – überaus viel Traumschlaf haben. Der Tiefschlaf hingegen ist essenziell, um im schulischen Lernen erfolgreich zu sein. Zudem sorgt diese Phase für die Ausschüttung von Wachstumshormonen. Diese bringen nicht nur Länge in den Körper, sondern reparieren auch die Zellen. Die Muskeln und Knochen hingegen brauchen eigentlich keinen Schlaf – ihnen genügen Ruhephasen zur Erholung. Essenziell ist er aber für das Hirn. 

Die Putzequipe im Hirn

«Die Schlafforschung hat herausgefunden, dass Schlafen fürs Hirn ein aktiver Prozess ist», weiss Mathis. Im Gehirn findet man bestimmte Rhythmen und Aktivitäten, die des Nachts immer gleich ablaufen. Wie in Grossstädten oder nach Grossanlässen kommt auch in unserem Schaltzentrum die Putzequipe dann, wenn weniger Betrieb herrscht. Was das lymphatische System für den Rest des Körpers darstellt, ist das glymphatische System für unser Gehirn. Es sind Kanäle, durch die im Wachzustand kaum Flüssigkeit durchdringen mag. Im Schlaf hingegen schrumpft die Umgebung und sie erhalten mehr Platz. Dann fliesst das Wasser durch diese «Abwasserleitungen» – und schwemmt dabei Abfallprodukte mit, die sonst das Gehirn in seinen Funktionen behindern und im schlimmsten Fall zu einer Demenz führen können. Eine bahnbrechende Entdeckung, welche die Forschung erst in den letzten zehn Jahren richtig zu untersuchen begann.

Vermindert, vermehrt, verschoben, verunstaltet

Schlaf-Wach-Störungen lassen sich in vier Hauptgruppen einteilen: Der Schlaf ist entweder vermindert, vermehrt, verschoben oder verunstaltet. Es gibt die Menschen, die den Tag durch schläfrig sind oder sogar beim Autofahren einnicken – sie leiden unter vermehrtem Schlaf. «Häufig steckt das Schlaf-Apnoe-Syndrom dahinter», klärt Johannes Mathis auf. Auch Narkolepsie gehört in diese Kategorie. Diese seltene Krankheit beginnt oft in einer vulnerablen Periode im Leben, etwa in der Lehre oder in der Schule. 

Vom «verschobenen Schlaf» sind häufig Schichtarbeiterinnen und Schichtarbeiter betroffen, auch der Jetlag zählt hierzu. Doch die innere Uhr kann auch sonst verstellt sein. Vor allem Jugendliche zwischen 15 und 25 kämpfen mit einem verschobenen Schlaf-Wach-Rhythmus. Sie können abends nicht einschlafen und am Morgen kaum erwachen. Im Alter ist die biologische Uhr hingegen nach vorne verschoben – Stichwort senile Bettflucht. 

Im Wald erwacht

Zum «verunstalteten Schlaf» gehört das Schlafwandeln. Es gibt diese Geschichten, die Wellen schlagen. Von Rekruten, die nachts zum Fenster hinausstürzen. Auch Mathis betreute einmal einen 50-jährigen Mann, der mitten in der Nacht im Wald erwachte. Er sass in Unterhosen in seinem Auto am Steuer, neben ihm sein Kissen, auf dem Rücksitz das Duvet. Er hatte keine Ahnung, wie er dahingekommen war. Nur dank dem Navigationsgerät mit «Home»-Funktion fand er wieder nach Hause – und stellte fest, dass er 80km weit gefahren war. «Solche Handlungen lassen sich durch eine Dissoziation  im Gehirn erklären. Der Teil im Hirn, der für die Bewegung zuständig ist, ist wach, die Abteilung für die Vernunft schläft aber noch», erklärt der Belper. Manchmal sind solche dissoziativen Gehirnzustände Vorboten von anderen schweren Krankheiten wie Parkinson oder Demenz.

Erlernte Insomnie

Am meisten verbreitet ist der verminderte Schlaf. Wer abends wach liegt, Schafe zählt, sich hin und her wälzt oder ab jedem Glockenschlag des Kirchenturms verzweifelter wird, bekommt oft Medikamente verschrieben. Johannes Mathis sieht das bei vorübergehenden Herausforderungen wie während einer Prüfungszeit als Möglichkeit, bei chronischer Schlaflosigkeit aber kritisch. Besonders vor den starken Benzodiazepinen warnt er: «Nach vier bis fünf Wochen ist der Effekt vorbei.» Sein Rat: eine Verhaltenstherapie. «Bei den meisten ist Schlaflosigkeit kein neurologisches, sondern ein psychisches Problem.» Es gibt etwa die erlernte Insomnie: Junge Mütter, deren Nächte von den Bedürfnissen der Kinder zerrissen sind. Später schlafen die Kleinen wunderbar, die Mutter aber immer noch schlecht. Störungen wie ein Todesfall in der Familie, ein pflegebedürftiger Vater oder Spannungen auf der Arbeit bringen die Betroffenen um die Ruhe, die sie zum Ein- und Durchschlafen bräuchten. Die Schlafprobleme bleiben, auch wenn die ihr zugrundeliegende Störung behoben ist. 

Teufelskreis Schlafstörung

«Diese Patientinnen und Patienten machen leider vieles falsch. Sie bleiben zum Beispiel einfach länger liegen – aber man soll dem Schlaf nicht zuviel Zeit zur Verfügung stellen», stellt der Schlafexperte klar. Darum verschreibt er auch mal eine «Liege-Restriktion» – nicht länger als acht Stunden innert 24 Stunden dürfen sich seine Patientinnen und Patienten hinlegen. Meistens werde der Schlafmangel als gravierender wahrgenommen, als er sei. Der Mensch sei auch mit wenig, aber dafür tieferem Schlaf erstaunlich leistungsfähig. Umso wichtiger sei darum eine psychotherapeutische Begleitung, um wieder «runterzukommen» und neue Verhaltensmuster zu erlernen. «Leider ist es für uns Schlafärzte eine grosse Herausforderung, Psychotherapeuten mit Erfahrung auf diesem Gebiet zu finden, die noch freie Kapazitäten haben», erzählt er. Besonders seit der Pandemie seien sie stark ausgelastet. Psychische Probleme, schlechte Gewohnheiten und Schlaflosigkeit – oft ein Teufelskreis. Lange dachte die Wissenschaft zum Beispiel, dass Depressionen zu Schlafstörungen führen. Heute weiss man, dass auch das Umgekehrte zutrifft. Die Schlafstörung gilt als Risikofaktor für die Depression und bildet damit sozusagen einen Teufelskreis. 

Mäuse in den Knochen

Eine häufige Störung, mit 6 bis 10% bei den Männern, ist die Schlaf-Apnoe. Manche Studien sagen sogar, dass mehr als die Hälfte der über 50-Jährigen davon betroffen ist. Hierbei erleiden die Betroffenen viele nächtliche Atemaussetzer, wodurch ihr Schlaf wiederholt unterbrochen wird – sie fühlen sich am Morgen wie gerädert und leiden tagsüber unter starker Schläfrigkeit. Häufig steckt Übergewicht dahinter. Die Fettablagerungen finden auch im Rachen statt und beeinträchtigen den Luftfluss. Viele finden erst wieder durch ein CPAP-Gerät zu Erholung. Über eine Maske wird Luft in Mund oder Nase der Patienten geblasen, was die Atemwege offen hält. 

Die Frauen hingegen leiden besonders häufig unter dem «Restless-Legs-Syndrom». Sobald sie sich hinsetzen oder hinlegen, verspüren sie den starken Drang, umherzulaufen. Mal ist es wie ein Ziehen in den Beinen, mal eher ein Brennen oder ein Stechen. «Die Beschreibung des Gefühls ist sehr individuell, viele sagen, es sei unbeschreiblich», berichtet Johannes Ma-this. Von «Coca Cola in den Venen» über «Mäuse in den Knochen» bis zu «Würmern in den Muskeln» haben Ärztinnen und Ärzte schon fast alles gehört. Die Ursache kann von einem Vitaminmangel herrühren, oft ist eine Vererbung im Spiel und es hilft nur die symptomatische Behandlung mit Medikamenten.

Was klar ist: Die Schlafstörungen sind nicht nur selbst Probleme, sondern erhöhen das Risiko für spätere Krankheiten wie Alzheimer oder Parkinson. Doch warum leiden überhaupt so viele Menschen an Schlaf-Wach-Krankheiten? Johannes Mathis weiss: «Viele Menschen haben Mühe, sich in der Welt zurechtzufinden. Dieser Stress ist eine schlechte Voraussetzung für Schlaf.» Arbeitsunsicherheit, Überaktivierung, zu viel Medienkonsum, «FOMO» (Fear of missing out – die Angst, etwas zu verpassen), die ständige Erreichbarkeit: «Ich beobachte Schlafstörungen bei Jungen wie bei Älteren», erzählt er.

Der Morgen prägt die Nacht

Was also tun für eine gute Nachtruhe? «Regelmässigkeit ist das A und O», betont der erfahrene Mediziner. Die Schlafdauer mag gewisse Abstriche erleiden, aber man sollte immer zu einer ähnlichen Zeit schlafen gehen. Um die biologischen Uhren der Organe und die Hauptuhr im Gehirn im Takt zu halten, sei am Morgen möglichst viel Sonnenlicht, Bewegung und Essen wichtig. Diese drei wichtigsten Zeitgeber synchronisieren die verschiedenen Körperfunktionen. Wer also im Stress das Frühstück überspringt, lässt den Magen glauben, der Tag habe noch nicht begonnen – schon ist die innere Uhr des Magens aus dem Rhythmus. Auf was aber kann am Abend geachtet werden? Häufig wird vom störenden Blaulicht der Bildschirme gesprochen. Mathis relativiert: «Ja, das hat schon eine negative Auswirkung. Aber deutlich störender kann der konsumierte Inhalt der Medien sein.» Etwa Mobbing in Klassenchats, das Warten auf Antworten, stressauslösende Arbeitsmails oder beunruhigende Schlagzeilen.

Erste Schlafpraxis

Ursprünglich Bündner, lebt Mathis seit 1991 in Belp. Der Vater von drei erwachsenen Kindern ist seit drei Jahren pensioniert und seit wenigen Tagen Grossvater. Vorher arbeitete er über 30 Jahre lang am Inselspital; die letzten 20 Jahre leitete er das Zentrum für Schlaf-Wach-Medizin. Nach seiner Pensionierung eröffnete er im Neurozentrum Bern die erste Schweizer Praxis für Schlafmedizin. Jeweils am Donnerstag bietet er dort Sprechstunden für Patienten an, die von ihrem Hausarzt wegen Schlafproblemen überwiesen werden. So kann er sein Wissen und die langjährige Erfahrung weiterhin Menschen zugutekommen lassen, die an einer der über 80 Störungen leiden.

Teilen Sie diesen Bereich

Beitragstitel
Süsser Schlaf – oder stressende Störung?

Die meistgelesenen Artikel

Kontakt